Im Gespräch mit Johann Soder, COO, SEW-EURODRIVE
Johann Soder arbeitet seit mehr als fünf Jahrzehnten bei SEW-EURODRIVE. Für den Hersteller von Antriebstechnik, der in vielen verschiedenen Erdteilen Fertigungswerke hat, ist er als COO tätig. In seiner Zeit bei SEW-EURODRIVE hat er viele Veränderungen miterlebt, selbst vorangetrieben und zu Verbesserungen gemacht. Mit Martin Haas, Gründer und Aufsichtsrat der Staufen AG, hat er darüber gesprochen, wie viel ein Unternehmen lernen muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Hier eine Zusammenfassung.
Realitätsbezug bei Führungspersonen
Die Belegschaft eines Unternehmens kann nur dann nach Perfektion und Höchstleistung streben, wenn sie dafür von den Führungspersonen die richtigen Impulse und Kapazitäten bekommt. Führungskräfte müssen sich also eine Vision erarbeiten, wenn sie mit ihren Teams erfolgreich sein möchten.
Gleichzeitig ist es unabdingbar, dass ein Realitätsbezug vorhanden ist und bleibt. Chefs, Manager und Führungskräfte sollten grundsätzlich aufpassen, dass sie die Bindung zum Shopfloor nicht verlieren: Wie laufen die Prozesse ab? Was sind die normalen Abläufe im Unternehmen? Aus welchen Schritten setzt sich die Wertschöpfungskette zusammen?
„Auch jetzt, gerade in solchen schwierigen Situationen, die gekennzeichnet sind durch fehlende Materialien und sonstige Probleme, muss man ein offenes Ohr haben, eng am Puls der Fabrik sein, man muss mit Mitarbeitern im Gespräch sein, um dann schnell, richtig und auch unterstützend wirken zu können. Am Shopfloor zu agieren, das war und ist ein großer Teil meines Erfolgs in meiner Zeit bei SEW-EURODRIVE.“
Wer sein Unternehmen und seine Mitarbeitenden sehr gut kennt, kann flexibel und schnell auf unvorhergesehene Situationen reagieren: Es sind keine langen Erklärungen nötig, weil das notwendige Wissen bereits vorhanden ist. Die Mitarbeitenden solcher Unternehmen wissen, dass sie sich auf die Vorgesetzten verlassen können. Derartiges Vertrauen hilft auch in schwierigen Situationen weiter.
Lange Zeit ist dieser Punkt in vielen Firmen vernachlässigt worden: Die Managementebene hatte mit den Mitarbeitenden nicht viel zu tun und oft auch nur ungefähre Vorstellungen von den Arbeitsprozessen in den verschiedenen Bereichen. Johann Soder begrüßt hier aber das Umdenken, das in den letzten Jahren eingesetzt hat: Führungskräfte erhalten inzwischen vermehrt Coachings, in denen sie diese wichtigen Grundsätze lernen.
Lean Philosophie zur Optimierung
Johann Soder erklärt, wie er bei SEW-EURODRIVE die Lean Philosophie eingeführt und umgesetzt hat: Es war ein Umbruch, die komplette Arbeit im Unternehmen von verrichtungsorientiertem zu prozessorientiertem Vorgehen zu wandeln. Wichtig war für ihn insbesondere, Lean Prozesse zu 100 Prozent umzusetzen und nicht auf dem Weg stehenzubleiben.
Dabei steht für Soder immer der Mensch im Mittelpunkt: Die Lean Philosophie sieht in seinen Augen keinen Stellenabbau vor, sondern ein Ausschöpfen des kompletten Know-hows aller Mitarbeitenden, was die Entwicklung neuer Arbeitsprozesse für die Zukunft erlaubt. Der Erfolg gibt ihm recht: Nach den ersten „Geburtsschmerzen“ und nachdem die Lean Philosophie den kompletten produktiven, technischen und administrativen Bereich durchdrungen hatte, konnte SEW-EURODRIVE eine Leistungssteigerung zwischen 30 und 35 Prozent verzeichnen.
Lean Prozesse als Fundament für die Smart Factory
Nachdem das Unternehmen auf die Lean Philosophie umgestellt war, dämmerte die Zeit der Industrie 4.0 herauf. Es zeigte sich, dass es durchaus möglich war, die verschlankten und vereinfachten Abläufe des Unternehmens mit den neuen Errungenschaften der Technik zu kombinieren. Die Menschen in der Fabrik standen aber weiterhin im Mittelpunkt.
Anfänglich gab es Bedenken: Die Smart Factory würde unter anderem durch das Sammeln von Daten zwar viele neue Möglichkeiten erschließen, aber sie war auch von einer ganz neuen Komplexität. Die Automatisierung erleichterte viele Arbeitsschritte, gleichzeitig erforderte sie zahlreiche Schulungen für die Mitarbeitenden. Auch die Chefs mussten umdenken.
„Lean (…) ist die Basis, auf die mit einer automatisierten Technik aufgesetzt wird. Deshalb lassen sich Lean und Industrie-4.0-Prinzipien in der Smart Factoring der Zukunft intelligent miteinander kombinieren.“
Zum Glück wurde relativ schnell klar, dass die Prinzipien eines lean aufgestellten Unternehmens gut mit dem technischen Überbau der Smart Factory zusammenpassten: Da vorher bereits alles an den Arbeitsprozessen vereinfacht worden war, was sich vereinfachen ließ, war die perfekte Basis geschaffen. Durch die Kombination aus Mensch und Technik gelang dem Unternehmen ein weiterer Quantensprung: Die Arbeitsschritte in den neuen Prozessen sind robust und belastbar.
Resilienz in der Krise
Die Pandemie hat Unternehmen aus ganz unterschiedlichen Branchen in Schwierigkeiten gestürzt. SEW-EURODRIVE musste nicht einmal in Kurzarbeit gehen, so gut konnte das Unternehmen die globale Katastrophe abfedern. Das lag unter anderem daran, dass zwischen den verschiedenen Unternehmenswerken eine exzellente Vernetzung bestand.
Als sich das Virus in China ausbreitete, litt dort die Produktion. So reagierten die Verantwortlichen in Deutschland schnell und schraubten die Produktion in den hiesigen Werken hoch. Hier zeigte sich, dass der neue Ansatz genau der richtige gewesen war: Die Kombination aus Lean Philosophie und Automatisierung ermöglichte es, vorübergehend die Produktion zu verdreifachen. Dafür wurden zusätzliche Schichten sowie Wochenendschichten eingeführt. Während zahlreiche Unternehmen in Deutschland ihre Angestellten nach Hause schicken mussten, gab es bei SEW-EURODRIVE mehr als genug Arbeit.
Etwas später kehrten sich die Verhältnisse um: China erholte sich langsam, während es in Deutschland brenzlig wurde. In dieser Situation konnten die chinesischen Werke mehr produzieren und so den deutschen Teil des Unternehmens teilweise mitversorgen. Auf diese Weise wurden die Kunden trotz der schwierigen Gesamtlage sowohl in Asien als auch in Europa zuverlässig weiter beliefert.
Nach der Krise ist vor der Krise
Es wird kaum einen Moment geben, in dem der Markt keine unangenehmen Überraschungen für Unternehmer bereithält. Die Engpässe bei den Halbleitern hatten sich jedoch schon lange angekündigt, daher war es verhältnismäßig einfach, hier vorzusorgen. Dass es allerdings im großen Stil und in ganz unterschiedlichen Bereichen zu Problemen in der Materialversorgung kommen würde, war nicht unbedingt abzusehen.
Auch in dieser Situation ist es hilfreich, wenn das Unternehmen so flexibel und wandlungsfähig wie möglich ist. Eine gute Vernetzung hilft dabei, Engpässe zu überwinden. So kann es vorkommen, dass die Belegschaft nach Hause geschickt wird, wenn nichts zu tun ist. Sobald aber über einen der zahlreichen Kanäle doch eine Lieferung kommt, geht die Arbeit zügig weiter. Zu keinem Zeitpunkt haben Kunden von SEW-EURODRIVE bislang über Gebühr warten müssen.
Führen lernen auf dem BestPractice Day
Es ist eines der Erfolgsgeheimnisse von Johann Soder, dass er die Veränderung immer aktiv gesucht und herbeigeführt hat: Es kann seiner Meinung nach keinen dauerhaften Status quo geben, wenn das Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben soll. Nur durch Weiterentwicklung kann der Erfolg auf Dauer erhalten bleiben.
Johann Soder wird zu den Sprechern beim BestPractice Day gehören: Einmal im Jahr veranstaltet die Staufen AG diesen Lean Management-Kongress, bei dem es um die ganzheitliche Transformation von Unternehmen geht. Der COO von SEW-EURODRIVE liefert seinen Beitrag auf dem Kongress am 23. November in Leinfelden-Echterdingen. Besucher und Interessenten, die vor Ort oder über Video teilnehmen, erhalten spannende Einblicke in die Erfahrungen einer Führungskraft mit Umbrüchen, Weiterentwicklungen und der Implementierung neuer Ideen und Möglichkeiten. Wer neugierig geworden ist, kann sich gern auf der Website des BestPractice Day umsehen.
Moderation
Martin Haas, Gründer und Aufsichtsrat der STAUFEN.AG
Gast
Johann Soder, COO, SEW-EURODRIVE GmbH & Co. KG