Interview

„Wir werden künftig nicht mehr die globalen Lieferketten sehen wie heute.“ Experten zum Change Readiness Index 2022

Interview
November 25, 2021 | Nachhaltigkeit, Supply Chain Network Management

Ein Interview mit Johannes Giloth, COO der GEA Group AG

Die durch die Coronapandemie einem Härtetest unterzogenen Liefer- und Logistikketten sorgen nach wie vor weltweit für große Schwierigkeiten. Johannes Giloth, COO der GEA Group AG, erklärt, warum der MDax-Konzern bisher recht gut durch die Krise gekommen ist und wo aus seiner Sicht das größte Potenzial beim Thema Nachhaltigkeit liegt.

Ein Expertenbeitrag zur Studie Unternehmen im Wandel – Change Readiness Index 2022

Herr Giloth, als Anlagenbauer ist GEA unter anderem etwa in der Steuerungstechnik auf die Belieferung mit Komponenten – Stichwort Halbleiter – angewiesen. Wie managen Sie die derzeitigen Engpässe?

Wir können sagen, dass wir Stand Q3 2021 noch keine signifikanten Lieferverzögerungen oder -ausfälle zu verzeichnen haben. Die Situation auf dem Markt für Halbleiter dürfte sich in der nächsten Zeit aber zuspitzen. Wir selbst sind zwar keine Direkteinkäufer von Chips, aber unsere Zulieferer, in deren Steuerungen und Motoren natürlich Halbleiter verbaut sind, sind damit stark konfrontiert. In dieser Situation hilft uns die enge Verbundenheit mit vielen Lieferanten. Im Zuge der Neuaufstellung unser Einkaufsorganisation haben wir den Austausch weiter intensiviert – etwa jüngst im Rahmen eines „Supplier Summit“ mit rund 100 Zulieferern vor Ort in Düsseldorf. Diese enge strategische Abstimmung stärkt das gegenseitige Vertrauen und ermöglicht uns eine bessere Reaktion. Dazu gehört die rechtzeitige Entwicklung von Alternativen, indem beispielsweise zusammen am Design eines Bauteils etwas verändert wird.

GEA hat bereits vor einigen Jahren das Projekt „Balanced Supply Chain Footprint“ gestartet. Was haben Sie mit dem Projekt bis jetzt erreicht und wie profitieren Sie davon in der aktuellen Situation weltweit angespannter Lieferketten?

Dieses Projekt, das zunächst unseren Manufacturing Footprint als Kern hatte, haben wir mittlerweile auf das gesamte globale Fertigungsnetzwerk ausgeweitet. Im Zentrum stehen dabei die folgenden Kriterien: Wachstumstreiber, Kostenoptimierung, Kernkompetenzen, Resilienz, Local for Local und Nachhaltigkeit

All diese Themen stellen besondere Anforderungen an ein Fertigungsnetzwerk. Neben der Optimierung der Produkt- und Produktionskosten geht es etwa auch um die Vermeidung von Single Sources und die Optimierung der Transportaktivitäten. Unsere Anstrengungen haben uns auf jeden Fall geholfen, gut durch die Corona- und die Lieferkrise zu kommen. Wir sind sehr viel besser geworden bei der Produktivität und den Produktionseinsatzkosten, und die verbesserte Resilienz zeigt sich darin, dass wir das Risiko eines Produktionsstillstands weitestgehend ausgeschlossen haben.

Ganz unabhängig von GEA: Wie werden sich die nun gemachten Erfahrungen auf den künftigen Umgang mit Lieferketten und Lieferanten auswirken? Sehen Sie in der Industrie Trends in Richtung Insourcing und/oder Nearshoring?

Die GEA selbst kommt historisch ja eher aus dem Nearshoring. Das ist kostentechnisch nicht so optimal, hat aber den Vorteil, dass man zum Beispiel in Krisen auf mehrere Zulieferer zurückgreifen kann. Die Resilienz im Einkauf liegt unserer Meinung nach aber noch viel stärker in der Modularisierung und der Gleichteileoptimierung. Diese Vermeidung unzähliger Spezifikationen für jede Maschine macht einen deutlich weniger abhängig von einzelnen Bezugsquellen. Insgesamt werden wir künftig nicht mehr die globalen Lieferketten sehen wie heute, weil die Logistikkosten einen immer größer werdenden Anteil am Kostenportfolio ausmachen werden und weil das Thema Nachhaltigkeit stärker zum Tragen kommt. Eine Antwort darauf ist Local for Local.

Die Neuausrichtung der Supply Chain ist ja nur ein Stellhebel. Welche Optimierungsmaßnahmen sehen Sie noch?

Entscheidend ist eine umfassende Perspektive. Denn wenn ich nur durch meine Produktionsbrille schaue, kann ich auch nur Bruchteile der möglichen Hebel ziehen. Wenn ich die Einkaufsfunktion mit einbeziehe, werden es schon ein paar Hebel mehr. Aber selbst da kommt man relativ schnell an seine Grenzen. Denn was ich produziere, wie ich es produziere und von wem ich die Teile beziehen kann, hängt wesentlich vom Design ab. Eine Optimierung der Wertschöpfungskette gelingt also immer nur mit dem Dreiklang aus Engineering, Einkauf und Produktion. Dann können Modularisierung, Gleichteilestrategie, Lieferantenoptimierung und Local for Local ihre vollen Stärken ausspielen. Wir müssen also vermeiden, diese Themen isoliert zu betrachten. Denn natürlich kann ich die Fertigung eines bestehenden Produkts immer weiter optimieren. Wenn ich aber an das Design gehe, kann ich es plötzlich um den Faktor 10 besser produzieren. Wichtig ist auch, die Lieferanten bei Themen wie Design to Cost oder Engineering to Cost eng einzubeziehen. Produktion und Einkauf machen bei GEA einen Kostenblock von rund 3,2 Mrd. Euro aus. Den gilt es zu optimieren, und ich bekomme ihn nur wirksam optimiert, wenn ich über das Produktdesign gehe.

„Wir werden künftig nicht mehr die globalen Lieferketten sehen wie heute.“

Johannes Giloth, COO der GEA Group AG

Dieser Ansatz hilft ja nicht nur bei den Kosten, sondern auch beim Thema Nachhaltigkeit.

Richtig. Denn wenn ich eine Wandstärke von 4 mm auf 3 mm reduziere, brauche ich logischerweise 25 Prozent weniger Stahl und reduziere entsprechend Emissionen und Logistikkosten. Auch bei der Nachhaltigkeit ist also eine gesamthafte Betrachtung entscheidend. Ich kann mir zwar eine Fotovoltaikanlage auf das Dach setzen, grünen Strom einkaufen oder alle Glühlampen durch LEDs ersetzen. Doch der größte Emissionsblock entsteht upstream und downstream – also durch den Einkauf und den Transport von Waren sowie den Energieverbrauch während der Nutzung der verkauften Produkte über den Produktlebenszyklus (sogenannter Scope 3). Hier sind die erzielbaren Effekte um ein Vielfaches größer.

Deshalb müssen wir auf unsere Lieferanten einwirken, dass sie uns beispielsweise effizientere Motoren liefern, deshalb kaufen wir grünen Stahl und setzen zudem auf alternative Werkstoffe. Aber vor allen setzen wir auf ein Re-Design. Brauchen wir den ganz großen Motor wirklich? Ist das massive Stahlblech tatsächlich notwendig? Gibt es andere Wirkmechanismen, um das gleiche Ergebnis mit viel weniger Energie zu erzielen? Das ist ein langer Weg, den wir mit Beharrlichkeit verfolgen. Denn GEA hat sich beim Thema Nachhaltigkeit an die Spitze gesetzt. Wir sind entschlossen, unsere Treibhausgas-Emissionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette bis 2040 auf netto null zu reduzieren. Die Treibhausgasemissionen aus eigenen Aktivitäten wollen wir bis 2030 um 60 Prozent senken. Unter anderem wollen wir schrittweise auf 100 Prozent grünen Strom gehen und unsere Flotte von rund 4.300 Firmenwagen, wo immer möglich, auf umweltfreundliche Fahrzeuge umstellen. Im Scope 3 wollen wir bereits bis 2030 eine Reduktion von 18 Prozent schaffen, was sehr ambitioniert ist.

Von der Nachhaltigkeit ist der Schritt nicht weit zum Thema Ernährung. GEA ist einer der weltweit größten Anbieter von Maschinen, Anlagen und Technologien für die Lebensmittelindustrie. Wie können Sie die Nahrungsmittelproduzenten dabei unterstützen, dem Wunsch vieler Verbraucher nach „besseren“ Lebensmitteln gerecht zu werden?

Das ist ein sehr, sehr interessantes Marktumfeld mit starken Wachstumsraten. Erst jüngst konnten wir Novozymes, weltgrößter Anbieter von Enzym und mikrobiellen Technologien, als Kunden gewinnen, um in den USA eine Großanlage schlüsselfertig auszustatten. Diese wird pflanzenbasierte Proteine herstellen, die zur Produktion pflanzlicher Nahrungsmittel benötigt werden. Der Markt für New Food wächst rasch und ist einer der größten Innovationsfelder für GEA. Wir wollen dieses Geschäft ausbauen. Denn viele der Produkte sind auf komplett neue Technologien und anspruchsvolle Fertigungstechniken angewiesen, die wir beherrschen – etwa Precision Fermentation. Interessanterweise unterscheiden sich die Kunden in diesem Feld deutlich von „klassischen“ Kunden. New-Food-Firmen sind oft klein und durch Private Equity finanziert. Daher herrscht in diesem Segment häufig eine Start-up-Mentalität mit viel Tempo und kurzen Entscheidungswegen.

Stichwort Geschwindigkeit: Sowohl der Umgang mit globalen Lieferketten als auch die Verbesserung des Global Footprint sind ohne den Einsatz digitaler Lösungen kaum denkbar. Wie ist GEA hier aufgestellt? Was erwarten Sie für die Zukunft?

Man muss hier zwischen drei Bereichen unterscheiden. Bei der internen Prozessdigitalisierung – etwa im Einkauf – sind wir schon sehr gut unterwegs. Auch bei der Digitalisierung von Produktion und Supply Chain gibt es bereits viele Use Cases. Das nächste große Thema ist nun die Digitalisierung in Richtung Kunde. Wie bekommen wir unsere Maschinen enger in das Netzwerk des Kunden eingebunden? Wie entstehen aus diesem Datenschatz neue Produkte und Dienstleistungen? Software und As-a-Service-Lösungen sind auch bei GEA immer zentraler werdende Themen. Zugleich bin ich davon überzeugt, dass das Thema Nachhaltigkeit mindestens einen genauso großen Einfluss auf die Wertschöpfungsketten haben wird wie die Digitalisierung. Wenn nicht vielleicht sogar einen noch größeren.

Der Gesprächspartner

Johannes Giloth ist seit dem 20. Januar 2020 Mitglied des Vorstands der GEA Group AG.
Dort verantwortet er als COO das Ressort Einkauf, Produktion und Logistik. Giloth ist Diplom-Wirtschaftsingenieur und hat vor seiner aktuellen Position verschiedenste Managementfunktionen im In- und Ausland in den Bereichen Einkauf, Logistik und Produktion verantwortet, unter anderem bei Nokia und Siemens.

Das Unternehmen

GEA ist einer der größten Systemanbieter für die
Nahrungsmittel-, Getränke- und Pharmaindustrie. Der im MDAX gelistete, international tätige industrielle Technologiekonzern fokussiert sich auf Maschinen und Anlagen sowie auf Prozesstechnik und Servicedienstleistungen. Für das 1881 gegründete Unternehmen arbeiten mehr als 18.000 Mitarbeitende in 64 Ländern. Der Umsatz lag zuletzt bei gut 4,6 Mrd. EUR.

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