Wir stehen in der Gefahr, aus der Krise nicht zu lernen.

STAUFEN MAGAZINE 2021 | No. 4 | Frank Krause | Leadership und Organisationsentwicklung

vom Selbstbetrug nach ungenügender Umsetzung.

Rückblende: Ihnen wurde bereits vor mehr als 20 Jahren zu einer Lösung geraten, die Ihre Prozesslandschaft verbessert. Die Lösung bestand aus einem Wirkungskreislauf mit drei sich verstärkenden Maßnahmen. Das Ziel? Die Reduktion von allem, was der Kunde nicht zu bezahlen bereit ist, und somit die Verkürzung der Durchlaufzeit. Das Potenzial nannten Sie Verschwendung.

Die erste Maßnahme sollte Ihre Prozesse sicher machen, die zweite sollte sie miteinander verketten – zumindest sie so nah wie möglich zueinander in Fluss bringen. Die dritte Maßnahme sollte die Prozesszeiten angleichen. Alle drei Maßnahmen sollten es Ihnen erlauben, die Verschwendungen zu reduzieren, weil diese nicht mehr „erforderlich“ sein würden, wenn die Prozesse „immun“ gegen Störungen sein würden.

Die Zunahme an Verkettung sollte den Umsetzungsdruck auf die Stabilisierung der Störungsfreiheit erhöhen. Das Ideal war der störungsfreie und vollständig verkettete Kunde-Kunde-Prozess. J. P. Womack und D. T. Jones gaben dieser Prozesslandschaft 1996 einen Namen: das „schlanke“ Unternehmen (Lean Enterprise), und sie forderten dazu auf, den industriellen „kalten Krieg“ entlang der Wertschöpfungskette zu beenden.

Zurück in die Gegenwart: Seitdem ist viel passiert. Viele Prozesse wurden stabiler. Viele Prozesse wurden verkoppelt, aber viele – zu viele – Transporte blieben. Vor allem in den globalen Netzwerken blieb der Begriff vom „Teile-Tourismus“ erhalten. Die Abstimmungen zwischen „Kunde“ und „Lieferant“ verbesserten sich. Von der überparteilichen Initiative aller Teilnehmer des Wertstroms für die Verschlankung des Wertstroms, wie es die beiden

Autoren in ihrem Bestseller forderten, sind wir jedoch noch weit entfernt. Trotzdem wurde Verschwendung eliminiert. Jetzt in der Krise brach an vielen Stellen die Versorgung zusammen und der Schuldige war schnell ausgemacht. Man hätte die „Sicherheiten“ nicht reduzieren sollen. Die Idee von „Just-in-Time (JIT)“ sei der falsche Weg gewesen. Prozesse seien „immer“ instabil und der Abbau von Sicherheit(-sbeständen) ein gefährlicher Weg. Das hätte die Krise jetzt bewiesen.

Aber stimmt das? Diese Frage soll in diesem Beitrag beantwortet werden. Dazu ist es notwendig, den Reifegrad der Umsetzung des schlanken Unternehmens anzusehen. Welchen Reifegrad hatte die Umsetzung der schlanken Prinzipien vor der Krise? Wie weit waren die beiden Elemente „Störungsfreiheit“ und „Fluss“ gediehen? Ein Blick in unsere Studie „25 Jahre Lean Management“ von 2016 zeigt: Nur 7 Prozent aller Unternehmen hatten die Elemente eines schlanken Unternehmens überhaupt umgesetzt. Ganz besonders eklatant war es in den indirekten Bereichen. 20 Prozent aller befragten Unternehmen gaben zu, hier nur 20 Prozent erreicht zu haben.

Die aktuelle Kritik am JIT-Konzept birgt die Gefahr des Selbstbetrugs. Nicht die Idee von JIT gilt es zu verwerfen – sie ist dringlicher denn je. JIT ist nicht die Ursache für schlechte Lieferfähigkeit, vielmehr hat die ungenügende Umsetzung der Prinzipien uns in diese missliche Lage gebracht. Der Vergleich mit einer abgebrochenen Antibiotikatherapie trifft es. Der Patient glaubt, die „Krankheit“ bereits überwunden zu haben, deshalb reduziert er die Dosis – und die Beschwerden kommen zurück.

Seien wir also ehrlich und erinnern wir uns, was wir seit mehr als 25 Jahren wissen (sollten): JIT ist nicht nur die Einführung von Störungsfreiheit bei unseren Prozessen (im direkten wie im indirekten Bereich gleichermaßen), sondern eben auch die Verkettung der einzelnen Prozesse, sodass keine Verschwendung mehr zwischen ihnen entstehen kann. Dazu braucht es Leitprinzipien, die schon lange bekannt sind: beispielsweise das Bestehen auf Lieferanten, die „in der Nähe“ sind, keinen „Global-Parts-Tourism“. Die Krise hat uns deutlich vor Augen geführt, welche Risiken entstehen, wenn Wertschöpfungsketten über den Erdball „verteilt“ sind. Die Organisation der Schnittstellen erfordert Aufwand, es entstehen fatale Abhängigkeiten, wenn sie zerrissen werden.

Heißt das, dass wir die Globalisierung aufgeben oder „zurückdrehen“ müssen? Nein, aber wir sollten das anstreben, was wir Mitte der 90er-Jahre bzgl. der Wertstromgestaltung kennengelernt haben: den Aufbau ununterbrochener Wertströme. Wir kennen die Idee „Local for Local“ seit Langem. Sie sollte zukünftig die Devise sein. Tun wir uns und der Umwelt einen Gefallen und reduzieren wir Transporte von Information und Material auf ein Minimum, indem wir vollständige und eigenständige Systeme dort schaffen, wo unsere Kunden sind. Dazu müssen unsere Bewertungs- und Kostenrechnungssysteme weiterentwickelt werden – eine „Cost per Unit“-Strategie darf nicht mehr das Maß aller Dinge sein. Uns muss es etwas wert sein, so wenig wie möglich zu transportieren. Die verschwendungsarme Funktion des Wertstroms steht im Vordergrund, nicht die Suboptimierung einer Funktion im Unternehmen, sei es das Controlling, die Logistik oder die Produktion. Dazu gibt es nicht nur klassische Vorbilder, wie etwa das Ford-Werk „River Rouge“ von 1928, sondern auch viele moderne wie die Standorte von Toyota in den USA 2. Lassen wir dazu James P. Womack, Gründer und Leiter des Lean Enterprise Institute, zu Wort kommen:

„Die ideale industrielle Zukunft würde natürlich so aussehen, dass jeder von uns in seinem Keller seine eigenen Güter produziert. Richtig? Dann hätte jeder genau das, was er braucht, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, an dem er es braucht. Natürlich wird es in dieser Extremform nicht dazu kommen, aber ich glaube, dass wir in Zukunft mehr und mehr Produktionen in relativ kleinen, finanziell unabhängigen, operational integrierten Komplexen innerhalb der einzelnen Verkaufsregionen sehen werden. Diese Fabriken werden aussehen wie … tja, wie kleinere Versionen von Toyota City.

Toyota ist nach klassischem Verständnis hochgradig deintegriert, das heißt, es stellt so gut wie kein Teil mehr selbst her. Unter Prozessgesichtspunkten hingegen arbeitet das Unternehmen extrem integrativ, indem es mit seinen Lieferanten ersten, zweiten und dritten Grades ein brillantes Joint-Process-Management betreibt. Das ist die Zukunft.“

JAMES P. WOMACK
Quelle: www.brandeins.de, Artikel „Womacks Weisheiten“

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