Warum selbst einem Zukunftsforscher die Zeit davonläuft.

Leadership und Organisationsentwicklung

Lars Thomsen, Gründer und Chief Futurist des Thinktanks future matters, sagt schon für die nahe Zukunft gewaltige Umwälzungen durch künstliche Intelligenz (KI) voraus – für unsere Wirtschaft, aber auch für unser Verständnis von Arbeit und Führung.

Herr Thomsen, wenn wir von KI sprechen, was macht Intelligenz dabei für Sie überhaupt aus?

In erster Linie, dass ein System lernen und mit uns im Dialog zu neuen Ergebnissen gelangen kann. Computer wurden bisher nicht schlauer, indem sie jeden Tag Erfahrungen machten. Das ändert sich jetzt. Erstmals sind sie nicht mehr statisch für das reine Umsetzen von Befehlen ausgelegt. Sie erkennen Muster, verstehen Texte und sogar Emotionen, etwa in der menschlichen Stimme.

Es gibt zahlreiche Anekdoten um herausragende Erfolge mit KI, aber wie weit ist man damit wirklich in der breiten Anwendbarkeit?

Wir können davon ausgehen, dass KI in den kommenden drei Jahren im Arbeitsalltag bereits den Inhalt von Texten, Gesprächen oder E-Mails genügend verstehen kann, um uns Vorschläge für Antworten zu machen oder sogar selbstständig zu antworten. Positiv gesehen befreit uns KI also von der Last der Routine, was uns Raum gibt, zu denken und kreativ zu sein. Wie bei anderen digitalen Neuerungen erleben wir dies in kleinen Schritten – aber schon nach einigen Wochen werden wir uns jeweils fragen, wie wir zuvor ohne ausgekommen sind.

Wo sehen Sie sonst Einsatzmöglichkeiten für KI?

Generell bei Aufgaben, die im Grunde immer gleich ablaufen. Etwa eine Auto- oder Busfahrt durch die Stadt. KI kann den durch die Straßenverkehrsordnung gesetzten Regeln folgen, wiederkehrende Muster erkennen und Situationen einschätzen lernen. Dabei entwickelt sie sich rasant als zusammengeschlossener Schwarm. Wenn hunderttausend autonome Autos gemeinsam das Fahren lernen und untereinander die Informationen austauschen, haben sie in zwei Wochen mehr Fahrerfahrung gesammelt als ein Mensch in 60 Jahren. Darüber hinaus kann KI überall zum Einsatz kommen, wo es um Analyse und Mustererkennung in großen Datenmengen geht. Ähnliches macht heute etwa der Finanzmarktanalyst. Bislang brauchte es einen Rechtsanwalt, der den passenden Standardvertrag für eine GmbH erstellt; in wenigen Monaten kann das eine KI genauso gut oder besser. KI betrifft also eine große Bandbreite von Berufen.

„Positiv gesehen befreit uns KI also von der Last der Routine…“

 

Es stellt sich die Frage, wie wir in Zukunft Arbeit neu definieren.

lars thomsen, gründer und chief futurist des thinktanks future matters

Der Mensch wird also bald gar nicht mehr gebraucht …

Auch als die Dampfmaschine erfunden wurde, gab es eine extreme Angst, dass sie Menschen die Arbeit wegnimmt. Stattdessen hat eine enorme Differenzierung und Vermehrung von Berufen stattgefunden – das allerdings über mehrere Generationen hinweg. KI wird dagegen innerhalb der kommenden 15 Jahre unser Leben und unsere Arbeit maßgeblich verändern. Es stellt sich die Frage, wie wir in Zukunft Arbeit neu definieren und ob wir uns von einem Modell verabschieden, das den Wert von Arbeit meist noch in geleisteter Zeit misst, statt Talent, Können und Ideen zu honorieren. Der enorme Veränderungsdruck hat natürlich politische und gesellschaftliche Auswirkungen, auf die die Volkswirtschaften eine Antwort finden müssen. So gibt es heute bereits Firmen, die am Tag Millionen an den Finanzmärkten durch den Einsatz von KI verdienen, ohne dass dort ein Mensch arbeitet – also komplett ohne Personalkosten und Sozialabgaben.

Wenn sich unser Verständnis von Arbeit derart ändern muss, hat das doch sicher Auswirkungen auf das Thema Führung?

Ein Chef, der seine Machtposition rein über die Hierarchie rechtfertigt, ist schon jetzt auf dem Rückzug. Gute Führung definiert sich immer mehr über die Fähigkeit, Menschen gemeinsame Ziele vermitteln zu können und sie zu befähigen, ihr volles Potenzial entfalten zu können. Exzellente Firmen unterscheiden sich von mittelmäßigen Firmen in erster Linie dadurch, dass Menschen an der Spitze stehen, die eine klare Vorstellung davon haben, wo sie hinwollen, und die ihr Umfeld und dessen Möglichkeiten und Potenziale kennen. Es muss eine Mission erkennbar sein, an der Mitarbeiter teilhaben möchten.

Wenn KI derart nahe vor der Tür steht, dann ist es doch erstaunlich, wie wenig das Thema in der Breite diskutiert wird, auch auf politischer Ebene.

Bei future matters können wir selbst kaum fassen, mit welcher Geschwindigkeit KI voranschreitet. Dass man dies auch auf politischer Ebene unterschätzt, liegt an einem altbekannten Rezept für große Fehlprognosen: Man schaut sich die vergangenen fünf Jahre an, findet wenig und glaubt, dies würde sich weitere fünf Jahre so fortsetzen. Schon jetzt breitet sich KI in ganz unterschiedlichen Segmenten aus. So gibt es Kameras, die selbstständig die Wohnung beobachten und Auskunft geben über die verlegte Brille. Smartphones werden mit vorausdenkenden Assistenten ausgestattet, die basierend auf persönlichen Vorlieben und Terminen einen passenden Treffpunkt für zwei Dienstreisende vorschlagen. Wir werden für verrückt gehalten, wenn wir 2027 einen Robotermarkt prognostizieren, der größer ist als der Automarkt. Doch der Gedanke ist nachvollziehbar. Weitere Urbanisierung, automatisierte Fahrzeuge, die auf Bedarf kommen – warum sollte man sich da ein Auto kaufen und nicht stattdessen für das Geld Serviceroboter leasen, die den Haushalt führen? Unsere Industrien müssen die Potenziale dieser Umbrüche verstehen und sich auf ihre Stärken besinnen: Auch Roboter benötigen mechanische Teile, Präzisionsfertigung, ein Händlernetzwerk oder Service. Eine zu starke Konzentration auf die Produkte, die uns in den letzten 100 Jahren erfolgreich gemacht haben, verstellt nur zu oft den Blick auf das Potenzial, das sich nun durch die Umbrüche in Technologie und Gesellschaft eröffnet.

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