Fragen an Prof. Dr. Torbjörn Netland, Bereichsleiter Produktions- und Betriebsmanagement (POM) an der ETH Zürich
Herr Professor Netland, in Ihrem Blog vertreten Sie die Auffassung, dass „wir bessere Betriebsabläufe brauchen“. COVID-19-Beschränkungen behindern den Personen- und Warenverkehr. Wie kann man die Betriebsabläufe im verarbeitenden Gewerbe und im Dienstleistungssektor trotzdem verbessern?
Um während einer Pandemie die Produktion von Gütern und Dienstleistungen aufrechtzuerhalten, kommt es in erster Linie auf die Verbesserungsfähigkeiten an. Plötzlich müssen Produktionsbetriebe die Bewegungsrichtungen und die Logistik der Bediener überarbeiten, Prüfsysteme und PSA-Routinen einführen. Dienstleistungsunternehmen – insbesondere solche mit direktem Kundenkontakt – müssen das Kundenerlebnis neu efinieren. Und das tun sie auch! Viele Organisationen haben eine große Agilität bewiesen, um ihre Geschäfte weiterzuführen. Die Pandemie ist ein guter Lehrmeister. Die Frage ist, ob die Unternehmen die Gelegenheit auch zur langfristigen Verbesserung nutzen oder ob sie für ihre zusätzlichen Anstrengungen Einbußen in Kauf nehmen.
Das Sprichwort von Winston Churchill „Never waste a good crisis“ – „Vergeude niemals eine gute Krise“ könnte Unternehmen dazu motivieren, die Krise als Chance für die Entwicklung intelligenterer Geschäftsabläufe zu nutzen. Die freigesetzten Ressourcen und die Zeit sollte man zur Vorbereitung auf die Abläufe nach COVID nutzen.
Dies kann ein guter Zeitpunkt sein, um die Schulung und Einführung von Programmen zur Digitalisierung und zu operationeller Exzellenz zu beschleunigen. Einem Unternehmen fällt es natürlich leichter, in solche Initiativen zu investieren, wenn es davon überzeugt ist, dass es Licht am Ende des Tunnels gibt – oder noch besser: wenn man es bereits sehen kann!
Eine besondere Herausforderung ist es, den Austausch bewährter Praktiken und Benchmarking-Besuche während der Pandemie zu koordinieren, wenn der Zugang zu den Standorten stark eingeschränkt ist. Einige Unternehmen, die mit diesem Problem konfrontiert sind, haben mich um Rat gebeten, wie sie ihre Betriebsstätten von zu Hause aus koordinieren und lenken können. Hier kann Virtual Reality – die virtuelle Realität – eine vielversprechende Technologie sein. Im Augenblick arbeiten wir mit führenden Herstellern an diesem Thema. Wir lernen schnell, wie wir digitale Technologien nutzen können, um die Hürden zu überwinden, die die Pandemie vor uns aufgebaut hat. Es bleibt abzuwarten, wie viele der physischen Besuche vor Ort durch IT ersetzt werden können, aber ich sehe die Dinge heute deutlich positiver als vor Corona.
Wie wird die „neue Normalität“ für Hersteller nach COVID-19 aussehen? Wird es zu einer Wiederbelebung der Inlandsproduktion oder zu einer Entkopplung der Lieferketten kommen?
Ich glaube, die neue Normalität wird sich nicht grundlegend von der alten unterscheiden. In der Fertigung und in den Lieferketten besteht eine starke Pfadabhängigkeit. Es braucht Zeit, das Schiff zu wenden. Die beiden großen Unbekannten sind das Fortschreiten der Pandemie und die Geopolitik. Wenn die Pandemie bald zu Ende ist, kehren wir möglicherweise innerhalb weniger Monate zur Normalität zurück. Dauert sie jedoch noch Monate oder sogar Jahre, werden viele Unternehmen den wirtschaftlichen Ruin erleben und die Menschen müssen neue Wege finden, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dann werden wir viel innovativere Geschäftsmodelle sehen. Parallel dazu wirkt sich die Geopolitik mit ihren Handelskriegen, Steuern und Zöllen auf die Fertigungs- und Dienstleistungsaktivitäten aus.
Auch wenn einige von Reshoring in großem Umfang zu träumen scheinen, glaube ich, dass dies sowohl falsch als auch schädlich ist. Natürlich hat die Pandemie uns vor Augen geführt, dass es Produkte gibt, die für die Länder besonders wichtig sind. Es wird zwar politische Anreize dafür geben, die Herstellung solcher Produkte zurückzuverlagern, aber das wird nicht einfach sein. Nehmen wir zum Beispiel Medikamente. Die meisten Generika werden in Indien hergestellt. Es wäre höchst ineffizient, wenn alle Länder Fabriken für alle Arten von Medikamenten hätten. Es würde ganz einfach nicht funktionieren. Es ist leicht, die Globalisierung für Lieferkettenengpässe verantwortlich zu machen. Tatsache ist jedoch, dass wir diese Produkte ohne Zusammenarbeit und Handel auf globaler Ebene gar nicht hätten!
Hat die Coronavirus-Krise zu größerer Akzeptanz von Robotern und der Digitalisierung in der Fertigung geführt?
Ja und nein. Einerseits waren diejenigen Unternehmen, die ihre Lieferketten digitalisiert hatten, während der Pandemie besser bedient. Dank gemeinsamer IT-Strukturen, stabiler Stammdatenverwaltung und Track-and-Trace-Funktionen können diese Unternehmen per Fernzugriff schneller auf Unterbrechungen reagieren. Transparenz war das Schlüsselelement für schnelle Reaktion. Andererseits waren viele Investitionen in modernste Technologien nutzlos, als die Pandemie ausbrach. All die großartigen Initiativen zur Neuausrichtung im Kampf gegen das Coronavirus wären ohne Menschen nicht möglich. Ich sage oft, dass der Mensch die billigste Mehrzweckmaschine der Welt ist.
In der Fertigung spielte künstliche Intelligenz während der Pandemie keine große Rolle. Roboter, die Tausende von Teilen auswerfen können, zahlen sich nicht aus, wenn die Marktnachfrage auf ein paar Hundert sinkt. Für Organisationen mag es reizvoll sein, durch Investitionen in Roboter die Abhängigkeit von Menschen zu verringern, aber ich wäre vorsichtig mit der Verlockung einer sogenannten Lights-out-Fabrik. Jeder hat schon davon gehört, aber gesehen hat sie noch niemand. Eine Fertigung ohne Technologie ist undenkbar, aber ohne Menschen ebenfalls.
Sind die Menschen empfänglicher für die Digitalisierung geworden? Auf jeden Fall. Die Pandemie zwingt sogar Großeltern, online zu gehen. Ich glaube, jedem von uns ist die Macht der IT bewusst. Wir konnten isoliert von zu Hause aus fast ununterbrochen verfolgen, wie große Teile der Gesellschaft ihre Arbeit verrichtet haben. Sind die Menschen empfänglicher für Automatisierung geworden? Das ist schwer zu sagen. Top-Manager vielleicht, die Beschäftigten auf Fertigungsebene eher nicht. Ich glaube, kluge Manager kümmern sich zuerst um ihre Mitarbeiter und erst danach um ihre Technologie.