
„Ethik ist kein Bremsklotz, sondern ein Innovationstreiber“
Ein Gespräch mit Prof. Dr. Maximilian Kiener über KI, Verantwortung und die Zukunft unternehmerischer EntscheidungenKünstliche Intelligenz (KI) zieht in die Unternehmenswelt ein – mit Wucht und Tempo. Doch wie gelingt der Spagat zwischen Innovation und Verantwortung? Philosophieprofessor Maximilian Kiener erklärt, warum Ethik weit mehr ist als Compliance und wie sich KI nachhaltig in unternehmerische Prozesse integrieren lässt.
Herr Professor Kiener, Sie sind Philosoph. Warum befassen Sie sich mit künstlicher Intelligenz?
KI wirft viele der klassischen Fragen der Philosophie in einem neuen, sehr praktischen Kontext auf: Was ist Intelligenz? Was bedeutet Verantwortung? Was unterscheidet den Menschen von der Maschine? Ich sehe hier eine enge Verbindung: Die Philosophie verschließt sich keiner Rückfrage, KI keinem Anwendungsbereich. Für Unternehmen bedeutet das: Die Herausforderungen sind sowohl technischer als auch ethischer Natur. Wie lässt sich wirtschaftlicher Erfolg mit gesellschaftlicher und ökologischer Nachhaltigkeit verbinden? Genau hier liegt die Relevanz meines Fachs: Ethik wird zum strategischen Erfolgsfaktor.
Wie können Unternehmen KI verantwortungsvoll einsetzen, ohne an Innovationskraft einzubüßen?
Das ist kein Widerspruch – im Gegenteil. Ethik ist kein Kostenfaktor, sondern ein Innovationskatalysator. Wer sich systematisch mit Werten auseinandersetzt, erkennt schneller, welche Entwicklungen nachhaltig sind. Technologische Entscheidungen – etwa welche Trainingsdaten verwendet werden oder wie Algorithmen Prioritäten setzen – sind nie neutral. Unternehmen, die Ethik als Teil ihrer Innovationsstrategie verstehen, steigern einerseits die gesellschaftliche Akzeptanz, andererseits die Qualität ihrer Ergebnisse.
Viele Unternehmen betrachten Ethik vor allem als Compliance-Aufgabe. Warum greift dieses Verständnis aus Ihrer Sicht zu kurz?
Compliance wird häufig als externe Kontrolle oder Checkliste verstanden. Doch Ethik geht tiefer: Sie fragt nach den Prinzipien hinter den Regeln, nach dem „Warum“ von Transparenz, Fairness oder Verantwortung. Das hilft Unternehmen, regulatorische Vorgaben wie den AI Act der EU nicht nur zu erfüllen, sondern sie auch zu verstehen und in die eigene Innovationsstrategie zu integrieren. Unternehmen, die diese Grundprinzipien verinnerlichen, handeln regelkonform und sind gleichzeitig resilienter und glaubwürdiger.
Wird der AI Act der EU zur Innovationsbremse oder zur Chance?
Die Wirkung hängt entscheidend von der Umsetzung ab. Natürlich gibt es Herausforderungen, etwa den bürokratischen Aufwand für kleinere Unternehmen. Wenn wir jedoch die Standards frühzeitig verstehen und gezielt umsetzen, können wir – ähnlich wie bei der DSGVO – Investitionssicherheit und Vertrauen schaffen. So kann der AI Act zum Vorbild werden, wenn er Klarheit schafft und Innovationen planbar macht. Entscheidend ist, dass Unternehmen nicht abwarten, sondern proaktiv handeln und Ethik als Ressource nutzen. KI-Innovation ist kein Sprint, sondern ein Marathon, der Weitsicht und Durchhaltevermögen verlangt.
Es geht nicht um Konkurrenz, sondern um Komplementarität: KI soll den Menschen nicht ersetzen, sondern ihn stärken.PROF. DR. MAXIMILIAN KIENER
Philosoph

KI-Systeme gelten oft als Blackbox, auch Experten können sie nicht immer durchschauen. Wie können Unternehmen Transparenz und Verantwortung sicherstellen?
Hier sind zwei Begriffe von zentraler Bedeutung: Transparenz und Erklärbarkeit. Transparenz bedeutet, offenzulegen, wann und wie KI eingesetzt wird, beispielsweise im Kundenservice oder bei Entscheidungsprozessen. Erklärbarkeit bedeutet, nachvollziehbar zu machen, wie eine KI zu ihren Ergebnissen kommt. Wichtig ist, dass die Erklärung dem jeweiligen Zielpublikum entspricht. Entwickler benötigen andere Informationen als Kunden oder Aufsichtsräte. Unternehmen sollten gezielt in Schulungen investieren und klare Rollen für den Umgang mit KI definieren. Nur so entsteht das nötige Vertrauen – intern wie extern.
Ein heiß diskutiertes Thema ist Agentic AI, also KI mit Entscheidungsautonomie. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Agentic AI hat ein enormes Potenzial: Sie ermöglicht eine neue Art der Skalierbarkeit und Effizienz. Wenn die erhöhte Unabhängigkeit oder Autonomie der KI aber ohne hinreichende menschliche Verantwortung voranschreitet, ist dies kein Fortschritt, sondern ein Risiko. Die größte Herausforderung besteht darin, klare Ziele zu formulieren, ohne gefährliche Abkürzungen zu provozieren. Ich vergleiche diese Systeme gerne mit einem hochmotivierten Praktikanten mit wenig Urteilsvermögen: unendlich leistungsfähig, aber ethisch noch unerzogen. Es braucht klare Strukturen, Verantwortlichkeiten und kontinuierliche Überwachung, Stichwort Human Oversight. Nur so lassen sich Chancen nutzen und Risiken minimieren.
Sie sprechen von Hybridintelligenz als Zukunftsmodell. Was bedeutet das für Unternehmen?
Hybridintelligenz beschreibt das produktive Zusammenspiel von menschlichem Urteilsvermögen und maschineller Leistungsfähigkeit. Es geht nicht um Konkurrenz, sondern um Komplementarität: KI soll den Menschen nicht ersetzen, sondern ihn stärken. Dafür ist eine kluge Aufgabenverteilung entscheidend, bei der menschliche Stärken wie Kontextverständnis, Empathie und Intuition gezielt mit KI-Fähigkeiten kombiniert werden. Gezielte Weiterbildung, neue Rollenbilder und ein starkes ethisches Fundament im Unternehmen sind hierbei unerlässlich.
Welche Empfehlungen würden Sie Managern und Gründern geben, die KI einführen möchten, aber unsicher sind, insbesondere mit Blick auf ROI und Compliance?
Erstens: proaktiv handeln und nicht auf die perfekte Regulierung warten. Zweitens sollte Ethik als strategische Ressource und Innovationstreiber und nicht als Bremsklotz begriffen werden. Drittens: interdisziplinär denken – Technik, Recht und Philosophie müssen zusammenarbeiten. Viertens sollte der ROI von KI nicht nur in Effizienz, sondern auch in Risikominimierung, Reputation und nachhaltigem Unternehmenserfolg gemessen werden. Führung bedeutet heute, Verantwortung zu gestalten und nicht nur zu delegieren. Das erfordert Mut und den Blick für das große Ganze.

Über die Person
Prof. Dr. Maximilian KienerDer promovierte Philosoph leitet das „Institute for Ethics in Technology“ an der Technischen Universität Hamburg und ist Research Associate am Uehiro Institute der University of Oxford. Seine Forschungsschwerpunkte: Ethik der Digitalisierung, KI, Verantwortung und technologische Regulierung. Neben seiner Rolle als Mitglied der „Responsible AI Alliance“ berät er Unternehmen und Politik bei der ethischen Gestaltung von künstlicher Intelligenz.
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