Arbeitswerttheorie: Hemmschuh für Lean-Prozesse, Schutz für den Planeten

staufen magazin 2024 No.7 | Staufen AG | Operational Excellence

Die These, dass ein schlankes Unternehmen nur dann entsteht, wenn sich nur noch ein Minimum an Verschwendung in allen Prozessen befindet, darf als gesichert angesehen werden. Damit das Potenzial dazu am größten ist, sollten nur diejenigen Prozesse als wertschöpfend definiert werden, die wirklich wertschöpfend sind. Und was wertschöpfend ist, dazu haben Sie in den letzten Jahrzehnten viele Definitionen kennengelernt, wie zum Beispiel diese: Wertschöpfung meint alle Tätigkeiten am Produkt, die den Wert des Produkts aus Kundensicht erhöhen, oder: Wertschöpfung ist das, wofür der Kunde bereit ist, zu bezahlen.

Die Definitionen zu Wertschöpfung und Verschwendungen im Lean-Kontext stammen ursprünglich aus dem Produktionsumfeld. Deshalb waren zuallererst Gegenstände gemeint, an denen Wert „geschöpft“ werden sollte. Die Mitarbeitenden benötigten ein Selektionskriterium, anhand dessen sie entscheiden konnten, von welchen Prozessanteilen es zukünftig weniger geben sollte und was als wertvoll galt und behalten werden sollte. Es wird bis heute dazu benutzt, Prozesse zu verbessern – betriebs- und volkswirtschaftliche Sichtweisen spielten bei der Definition des Kriteriums keine Rolle.

Gemäß der Arbeitswerttheorie fand Wertschöpfung nur in der Produktion statt. Mit dieser Möglichkeit, Prozesse in „gut“ und „schlecht“ einzuteilen, starteten alle Verbesserungen. Der im Wertstrom nachgelagerte Prozess bestimmte, welche Eigenschaften der Gegenstand haben sollte. Später erweiterte man diese Sicht und diskutiert bis heute darüber, ob die Arbeit an immateriellen Gütern auch als Wertschöpfung bezeichnet werden kann. Aus diesen Überlegungen heraus entwickelten sich neue Beratungsansätze. Lean Administration – ganz zu Anfang Lean Office – konzentrierte sich auf die Verschlankung der indirekten Bereiche eines Unternehmens.

Was aber passiert, wenn wir allzu leichtfertig mit dem Begriff Wertschöpfung umgehen, möchte ich mit der 4-Felder-Tafel unten erklären. Jeder Quadrant kombiniert den Definitionsumfang und die Perspektive, aus der definiert wird, was Wertschöpfung sein sollte. Welche Ergebnisse lassen sich jetzt ablesen und wie sind sie einzuordnen?

Verabschiedet sich Deutschland von seiner Industrie, verliert es seinen womöglich größten Wettbewerbsvorteil.

Clemens Füst
Ifo-Institut-Chef

Im oberen linken Feld ist die Arbeitswerttheorie erkennbar. Alle Tätigkeiten am Gegenstand, die nicht Ausschuss- oder Nacharbeit sind, erhöhen den Wert des Produkts. Die 7 Arten der Verschwendung – vor allem der Transport – gilt es auf ein Minimum zu reduzieren. Dies soll zu verdichteten und verketteten Wertströmen führen, die Voraussetzung für eine synchrone Produktion.

Das untere linke Feld zeigt die erste Erweiterung der Definition. Nachdem die Initiativen zu „Lean Production“ erste Erfolge zeigten, war schnell klar, dass die Aktivitäten nicht auf die Produktion beschränkt bleiben durften. Die beiden Bestsellerautoren J. P. Womack und D. T. Jones erklärten in ihrem zweiten Band „Auf dem Weg zum perfekten Unternehmen“, dass ein schlankes Unternehmen nur dann entstehen könne, wenn in allen Bereichen des Unternehmens die Verschwendung reduziert würde.

Die Manager standen also vor der Frage: Wie übersetzen wir die 7 Arten der Verschwendung für die indirekten Bereiche? Beratungsansätze wie zu Anfang „Lean Office“ nahmen diese Herausforderung an und definierten indirekte Verschwendungen. So entstand die Methodologie von Lean Administration.

Auch der Wertschöpfungsbegriff wurde übertragen. Dabei wurde offensichtlich, welchen Weg Veränderungsprozesse in den indirekten Bereichen nehmen, wenn Prozesse allzu leichtfertig als wertschöpfend bezeichnet werden. Sollte es im indirekten Bereich überhaupt Wertschöpfung geben? Die Leser*innen wären dann gefordert, indirekte Wertschöpfung zu definieren. Meist wird dieser Weg aus politischen Gründen eingeschlagen. Die Betroffenen hören es nicht gerne, wenn ihre Prozesse als Verschwendung bezeichnet werden, und verwechseln Wertschöpfung mit Wertschätzung. Niemand stellt die Notwendigkeit indirekter Prozesse infrage – sie sind notwendig –, aber damit eine Wertedebatte zu beginnen, reduziert am Ende das Potenzial. Es besteht die Gefahr, dass sich indirekte Prozesse dem Verbesserungsanspruch entziehen, weil sie als „gut“ und für den Kunden notwendig klassifiziert wurden.

Die aktuellen Diskussionen über die Deindustrialisierung von Deutschland und der Weg in eine Dienstleistungsgesellschaft verstärken die Argumente der Befürworter für eine indirekte Wertschöpfung. Der Weg in eine Dienstleistungsgesellschaft sei zwangsläufig und auch dort würde ja Wertschöpfung erzeugt. Aber sind diese Argumente brauchbar? Legitimiert das Ziel einer Dienstleistungsgesellschaft die Definition von indirekter Wertschöpfung?

Richtig ist: Viele Länder verlieren Industrie und boomen trotzdem. Richtig ist aber auch, dass Deutschland nicht auf seine Industrie verzichten kann. Ein Beleg für diese Aussage: Rund die Hälfte aller Hidden Champions – Unternehmen mit weniger als fünf Milliarden Euro Umsatz und Top-Drei-Position in ihrer Branche weltweit – stammt aus der Bundesrepublik. Auch viele Unternehmen der wichtigen Dienstleistungsbranche überleben nur dank dieser Unternehmen.2 Die Frage, ob es Sinn macht, sich als Industriestandort auf eine „Dienstleistungsgesellschaft“ zuzubewegen, beantworte ich mit einem klaren Nein, denn unser Wettbewerbsvorteil ist die Kompetenz, komplizierte internationale Wertströme zu organisieren. Wir besitzen keine Bodenschätze und können auch nicht vom Tourismus leben. Also gilt es schlanke Industriebetriebe zu organisieren. Hier steht die Verbesserung der materiellen Güterherstellung im Fokus. Jede indirekte Leistung für den Gegenstand ist demnach verdeckte Verschwendung und sollte hinterfragt werden können. Der Kunde bezahlt für den Gegenstand – nicht für die Prozesse, die seine Herstellung unterstützt haben. Die sieht er in der Regel nicht und kann sie auch nicht beurteilen. Speziell für den Transport gebe ich weiter unten eine Antwort. Aber zuerst zurück zur Grafik.

Das obere rechte Feld zeigt die Inkonsistenz der Definitionen aus Kundensicht. Er stimmt den Definitionen für verdeckte Verschwendung in der „Bauteilewelt“ zu, während in der „Dienstleistungswelt“ einige Definitionen plötzlich nicht mehr gelten.

Deutlich wird das im unteren rechten Feld. Hier erweitern wir den Wertschöpfungsbegriff um den Umfang der Dienstleistung, nachdem wir bereits in den indirekten Bereichen Wertschöpfung definiert haben. Die Prozessanzahl, die vor einer Reduktion durch die Klasse Wertschöpfung geschützt ist, ist ein zweites Mal größer geworden. Aber ist das eine gute Idee? Dieser Definitionsumfang ermöglicht es, die zuvor als verdeckte Verschwendung klassifizierten Prozesse als wertschöpfend einzuordnen, da der Kunde ja gerne dafür bezahlt bzw. bezahlen möchte. Der Wunsch / das Wohl des Kunden kann jedoch im Konflikt mit dem Gemeinwohl stehen. Auffällig wird dies bei den weltweiten Transporten. Ich möchte Sie an die Negativfolgen der Hyperglobalisierung erinnern. Wir erleben gerade nicht nur die ökonomischen und geopolitischen, sondern auch die ökologischen Nachteile, wenn „der Kunde“ weltweite Transporte verursacht. Ich hatte dazu schon einmal in meinem Podcast „Resilienz im Zusammenhang mit zukünftigen Lieferketten“ gesprochen. Hören Sie doch dort noch einmal hinein.

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